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Lykaon, Rex (Kurzgeschichte, auktoriale Erzählung)

Er keuchte. Die Schläge klangen dumpf auf dem gefrorenen Waldboden. Seit Weihnachten hatte es praktisch nur geregnet, und in den kalten Nächten zum Jahresbeginn war der Matsch auf den Jurahöhen zu einer festen Eisschicht verkrustet. Darüber lag eine dünne Schneeschicht, die im Mondlicht glitzerte. Im Wald, voll von hohen Fichten, kräftigen Buchen und dichtem Unterholz, konnte er davon kaum was sehen, während er, in Stiefeln, Joppe und Wollmütze, damit beschäftigt war, ein Loch zu graben. Schwerste körperliche Arbeit. Die klirrende Kälte konnte nicht verhindern, dass ihm dicke Schweisstropfen über das Gesicht liefen und einen salzigen Nebel über seine Augen legten, der ihm die Sicht auf das Resultat seiner Mühen nahm. Er machte eine Pause und trat auf die Lichtung hinaus. Die Lunge schmerzte von der Anstrengung, kalte Luft einzusaugen, die Muskeln mit Sauerstoff zu versorgen und die verbrauchten Moleküle loszuwerden. Sein Atem stieg in weissen Wölkchen wie kleine Schirmchen hinauf in den schwarzen Himmel. Vor ein paar Stunden hatte er noch nicht geahnt, wieviel Mühsal vor ihm lag. Aber wenn er jetzt auch noch so erschöpft war, die Arbeit musste zu Ende gebracht werden. Jeden Augenblick konnte ihn ein einsamer Spaziergänger hier im Dickicht überraschen. Er wäre für jedermann problemlos zu sehen und zu hören, der sich an den Waldrand verirrte. Hätte er gewusst, wie schwierig es war, mitten im Winter ein einfaches Loch auszuheben – er hätte sich wohl zurückgehalten. So aber blieb ihm nichts Anderes übrig, als sich mit kraftvollen Bewegungen wieder ans Werk zu machen.

Schwingen, hauen, auskratzen. Schwingen, hauen, auskratzen.

Er versank in Selbstmitleid. Gut, er hatte etwas getrunken. Konnte ein Mann nicht ab und zu ein bisschen Spass haben? Konnte sie nicht einfach mal die Klappe halten? Stattdessen provozierte sie ihn immer wieder von neuem mit Vorwürfen. Nannte ihn einen Alkoholiker, einen Taugenichts. Ihn, den sie als ihren Herrn akzeptieren und achten sollte. Er liess den Spaten einen Moment los, zog mit der einen Hand ein fleckiges Taschentuch aus der wollenen Joppe und fuhr sich damit über das verschwitzte Gesicht. Mit der anderen Hand umklammerte er den Stiel des Spatens. Er besass kräftige Hände, grobe, schwarzbehaarte, knorrige Klauen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Obwohl sie eigentlich hätte gewarnt sein müssen, sie kannte ihn schliesslich lange genug. Er holte erneut mit dem Spaten aus – und hielt mitten im Schwung inne, zu Tode erschrocken. Ein langgezogener, grauenvoller, heller Schrei zerschnitt die Stille der Winternacht. Ein kaltes Gruseln lief seinen Rücken hinab. Was war das für ein unheimliches, unmenschliches Geheul? Er blickte sich verstohlen um. Gab es Wölfe hier? Der Gedanke kam unversehens, aus dem Nichts. Dann schüttelte er den Kopf. Unlängst war ein solches Exemplar in Saint-Ursanne aufgetaucht. Aber soweit südlich käme es wohl kaum. Überhaupt, wovor fürchtete er sich eigentlich? Vor dem Bellen eines Fuchses oder eines entlaufenen Köters? Oder heulten andere Wildtiere auf diese Weise? Er hatte kürzlich einen Luchs gesehen, als er nächtens nach einem kleinen Umtrunk mit den Kollegen über die Wiesen nach Hause gelaufen war. Angestrengt lauschte er in den Wald hinein. Aber da war nichts als die Stille der Nacht, abgesehen vom Knistern und Knacken der Bäume. Seine Sinne hatten ihm einfach einen dummen Streich gespielt, geboren aus einer albernen kindischen Angst vor Strafe, die uns Menschen seit jeher tief in der Seele lauert. Der Vollmond schien hell auf das schneebedeckte Wiesengras. Hartung oder Wolfsmonat hatten die Leute in alter Zeit den Januar genannt. Eine Zeit der Entbehrung, der Einsamkeit und der Verzweiflung. Man sagte, dass unter dem Wolfsmond merkwürdige Dinge geschahen. Und im französischen Jura, ein paar Dutzend Kilometer von hier, waren früher Werwölfe aufgespürt worden. Unter den nadelbehangenen Fichten arbeitete er nichtsahnend weiter. Er war kein phantasievoller Mensch und begriff Dinge nur mit den Händen. Ein Stöhnen entrang sich ihm, weil noch so viel Arbeit vor ihm lag. Das Loch war bei weitem nicht gross genug, obwohl der Haufen ausgeworfener Erde stetig anwuchs. Wenn er in diesem Tempo weitermachte, würde er noch Stunden bis zur Vollendung brauchen.

 Der kleine Junge steckte sich den Daumen in den Mund und kletterte unter seinen warmen Decken hervor. Nackte Füsse trafen auf kalten Steinboden. Es war stockfinster im Zimmer. Leise konnte er den Atem seiner Schwester hören, die im Bett an der gegenüberliegenden Wand lag und tief und fest schlief. Verzweifelt versuchte er sich zu erinnern, in welcher Richtung die Türe zum Wohnzimmer war. Mit einem ausgestreckten Arm, um sich im Dunklen nicht das Gesicht anzustossen, tapste er vorsichtig der Wand entlang. Wenn er jetzt noch zwei Schritte weiterginge, musste er seiner Berechnung nach auf die Tür treffen. Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, prallte er mit dem Knie schmerzhaft gegen das Bettgestell. Es brauchte all seine Kraft, den unwillkürlichen Schmerzschrei zu unterdrücken. Er hatte sich um fast einen Meter verrechnet, die Türe musste weiter rechts sein. In der Wohnung herrschte Stille. Meistens schliefen seine Eltern erschöpft ein, wenn sie aufhörten sich zu streiten. Sie stritten oft. Der Junge nahm den Daumen aus dem Mund und griff tastend nach der Klinke. Leise, damit er seine Schwester nicht weckte, zog er den Griff herunter, und die Türe öffnete sich ein paar Zentimeter. Er lugte durch den entstandenen Spalt hindurch, sah aber nichts. Es war auf der anderen Seite genau so dunkel. Sie hatten auch heute Abend gestritten, er hatte sie gehört. Die helle Stimme seiner Mutter, die zwischen Weinen und Anklagen hin- und herschwankte, und die dunkle seines Vaters, die immer lauter wurde. Klatschen, Schreie, Weinen. Dem Jungen waren solche Geräusche vertraut. Wenn seine Eltern lärmten, hielt er sich normalerweise die Ohren zu und steckte den Kopf unter die Decke. So hörte er nur noch gedämpft und konnte sich einreden, dass alles gut war. Normalerweise fingen die Eltern nach einer kurzen Pause von vorne an, und es dauerte ewig, bis im Haus Ruhe herrschte. Heute waren sie glücklicherweise schnell fertig geworden, und der Junge war wieder eingeschlafen. Er nahm all seinen Mut zusammen und öffnete die Türe ganz. Im Wohnzimmer war es totenstill, da war niemand. Sie hatten sich tatsächlich schlafengelegt. Er schlüpfte durch die Tür und fühlte die Wärme des rauen Teppichs im Wohnzimmer unter den Füssen. Neben der Tür musste auf der linken Seite ein Lichtschalter sein. Er wurde ängstlich. Würden sie erwachen, wenn er das Licht anmachte? Würden sie böse werden, weil er sich in die Küche stahl, um Wasser zu trinken? Er wusste, dass die Nacht zum Schlafen da war. Kleine Kinder gehörten ins Bett, sagten sie, wo sie keinen Unfug anstellen konnten. Aber er war so durstig. Er brauchte Wasser. Also suchte er weiter nach dem Kippschalter. Ein sanfter Druck, und die elektrische Lampe warf einen schwachen Lichtschein in den Wohnbereich. Sofa, zwei Fauteuils, ein kleiner Tisch. Er schlich auf Zehenspitzen um die Möbel herum Richtung Küche. In der Küche würde er auf den nackten Fliesen wieder kalte Füsse bekommen, aber wenn er sich beeilte, konnte er die Wasserflasche aus dem Kühlschrank nehmen und einen klitzekleinen Schluck trinken, bevor sie merkten, dass er verbotenerweise aufgestanden war. Er bog hastig um die Ecke. Und rutschte krachend auf dem Küchenboden aus. Sein Kopf flog gegen die Wand. Einen Augenblick sah und hörte er nichts mehr. Sterne wirbelten. Dann rappelte er sich auf, entsetzt über den Lärm, den er verursacht hatte. Jeden Moment würde sein Vater oder seine Mutter auf der Türschwelle auftauchen und fragen, was er mitten in der Nacht in der Küche zu suchen hatte. Er würde nicht nur kein Wasser kriegen, sondern wahrscheinlich auch kein Frühstück am Morgen. Ein leises Schluchzen entfuhr ihm. Aber es kam niemand. Und er musste aufstehen. Er stützte seine Hand auf den Boden – und griff in etwas Nasses, Klebriges. Erschrocken zuckte er zurück. Sein Kopf tat immer noch heftig weh, und Tränen des Schmerzes schwammen in seinen Augen. Aber nach einem Augenblick konnte er sich mühsam aufrichten. Er humpelte rückwärts zurück bis zur Tür. Auch hier gab es einen Lichtschalter, den er mit Müh und Not erreichte, wenn er sich streckte. Das Neonlicht in der Küche war heller als die Lampe im Wohnzimmer. Sein Blick fiel auf eine rote Lache, die auf dem Küchenboden halbgeronnen schwamm. Er wusste sofort, was das war. Er hatte sich einmal den Arm an einem Stacheldraht aufgerissen, und was aus seinem Körper geflossen war, hatte genau gleich ausgesehen. Hier war etwas Schreckliches geschehen.

Das Loch war irgendwann gross genug. Er war stolz auf seine Leistung. Wenn er es erst wieder mit Erde zugedeckt und Zweige darauf verteilt hätte, wäre davon nichts mehr zu sehen. Der Schneefall, der für die nächsten Tage angesagt war, würde sämtliche Spuren zudecken. Den Kindern würde er erzählen, dass die Mutter ihre Familie besuchte. Sie war eine Mennonitin und schloss sich immer wieder für eine kurze Weile ihrer Gemeinschaft in den Freibergen an. Bis zum Frühling wäre sie vergessen. Sie hatte sehr zurückgezogen gelebt und nur wenige Freundschaften gepflegt. Danach musste er nur noch aufräumen. Kein Problem, die Kinder schliefen wohlversorgt bis zum Morgen. In diesem Augenblick hörte er ihn wieder. Einen langen, hellen, unmenschlichen Schrei. Entsetzt blickte er zum Haus zurück. Auf dem Balkon stand im silbernen Licht des Vollmonds sein Junge, eine kleine Gestalt im grauen Pyjama. Augen und Mund weit aufgerissen, streckte er seine Arme klagend nach dem Vater aus. Das wölfische Geheul, das sich seiner schmächtigen Brust entrang, erfüllte die Nacht und waberte furchterregend zwischen den Bäumen und weit über die Juraweiden hin und her. König Lykaons grösstes Verbrechen, für alle sichtbar geworden.